Zwanzig Jahre zu spät

Im August 2019 hat das Hessische Kultusministerium einen "Praxisleitfaden Medienkompetenz“  (https://kultusministerium.hessen.de/infomaterial/Praxisleitfaden-Medienkompetenz-Bildung-in-der-digitalen-Welt) herausgegeben, der die wichtigsten Linien für den Unterricht mit neuen Medien an hessichen Schulen zeigt. Ein gute Idee, ein Schritt in die richtige Richtung und von den Ansätzen her gelungen. Leider aber zwanzig Jahre zu spät.

Das vorige Jahrhundert

Die Autoren beziehen sich auf den vom Medienpädagogen Baacke in den 70er Jahren eingeführten Begriff der Medienkompetenz. Baacke unterscheidet vier Dimensionen: Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. Ziel ist aktive Nutzung und kreative Mitgestaltung der Medien durch das selbstbestimmte und gesellschaftlich handelndes Subjekt.

Wie die Diskussion um den Digitalpakt zeigte, ist in diesem Bereich ein ungeheurer Nachholbedarf an den Schulen. Die Lehrer*innenfortbildung dazu wurde sträflich vernachlässigt, die Anpassung der Kerncurricula an die genannten Erfordernisse ist noch lange nicht in dem Maß erfolgt, wie es notwendig wäre. Es ist also noch ein weites Feld zu beackern, jahrzehntelang wurde dieses Thema von vielen Pädagoginnen stiefmütterlich behandelt.

Wenn man den Text des vorgestellten Medienpädagogikkonzepts genauer anschaut, stößt man auf einige typische Formulierungen: „Handeln in der medial geprägten Umwelt“, „kritisch reflektieren“ „Nutzung von Medien“ oder „Umgang mit Medien“. So oder ähnlich klngt es in vielen noch kursierenden Konzepten der Medienpädagogik. Die Wortwahl spiegelt ein Bild wieder, wie die Medienstruktur vor zwanzig Jahren aussah: Eine Einbahnstraße der Informationen durch Fernsehen, Film oder Datenträgern, der die Menschen ausgesetzt waren. Pädagogisches Ziel war dann konsequenterweise, gegen die passive Rolle des Medienkonsumenten eine eigenständige kritische Haltung zu fördern. Dies war zur Förderung demokratischer und selbstbewusster Menschen in den 90er Jahren eine vollkommen angemessene Zielsetzung und ist auch heute noch eine grundlegende Kompetenz, die Schülerinnen erwerben sollten.

Zwanzig Jahre zu spät

Allerdings kommen die neuen Ansätze zwanzig Jahre zu spät. Mittlerweile hat so etwas wie eine digitale Umwälzung stattgefunden. Brechts „Radiotheorie“ und Enzensbergers „Medienbaukasten“ sind real geworden: Die Möglichkeiten, digitale Produkte hervorzubringen und die Einbahnstraße der alten "Neuen Medien" zu verlassen sind in ungeheurem Maße gewachsen. Die im vorigen Jahrhundert einflussreichen Steuerungsfunktionen der alten "Neuen Medien" werden immer schwächer. Die Unterscheidung von Produzenten und Rezipienten von Medieninhalten lässt sich nicht mehr trennscharf aufrecht erhalten: einerseits findet eine bedrohliche Auflösung der Privatsphäre statt (Alexa, private und staatliche Ausspähung des Individuums), andererseits eignen sich immer mehr Menschen die technischen Möglichkeiten im Digitalen an:

Viele Nutzerinnen des Internets

  • programmieren eigenständig Apps für ihr Smartphone,
  • erstellen Videos oder Podcasts,
  • treffen sich auf LAN-Parties,
  • entwickeln selbstständig Webseiten
  • gestalten ihren Webauftritt auf Instagram

Die Kurse zur Programmierung platzen aus allen Nähten und die Anzahl der Anbieter ist explosionsartig gewachsen. Dass die Kurse dabei häufig auf reine Codierfähigkeiten reduziert bleiben, ist kritisch zu sehen. Aber es gibt auch Anbieter und Initiativen, die den gesellschaftlichen Zusammenhang digitaler Bildung thematisiere. Hier eine kleine Auswahl an Angeboten, die die Aspekte des eigenständigen Produzierens berücksichtigen:

Die große Lücke

In vielen Medienbildungskonzepten taucht das alles nicht auf. Die Selbstreduzierung in diesen Konzepten trägt der digitalen Transformation unserer Gesellschaft nicht Rechnung. Es kann nicht mehr wie vor zwanzig Jahren nur um kritische Nutzung gehen, sondern um Aneignung und Gestaltung der digitalen Möglichkeiten. Nur dann, wenn digitale Strukturen in ihren technischen Grundzügen verstanden und beherrscht werden, können Menschen fundierte Entscheidungen treffen. Medienbildungskonzepte, die dies nicht berücksichtigen,  tragen der Bedeutung des digitalen Wandels nicht genügend Rechnung .

Das hessische Medienbildungskonzept greift endlich systematisch auf, was über Jahre in der hessischen Bildungspolitik sträflich vernachlässigt wurde. Allerdings ist dies, wie auch viele andere Medienbildungskonzepte, nicht auf der Höhe der Zeit und blendet grundlegende Erfordernisse angesichts der gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen aus. Vorschläge zu einer angemessenen Bildung im Digitalen, zur Entwicklung der "Digital Literacy" wurden bereits mehrfach vorgelegt. Hier das Beispiel des Dagstuhl-Dreiecks: Das Dagstuhl-Dreick (https://gi.de/themen/beitrag/dagstuhl-erklaerung-bildung-in-der-digital-vernetzten-welt) mit seiner Erweiterung zum Frankfurt Dreieck (https://dagstuhl.gi.de/frankfurt-dreieck/)